Aus Merits Geschichten
Raymonde Jospin wurde am 19. April des Jahres 1914 geboren, an einem schwülen Tag, der dunkle Gewitterwolken übers Meer schickte. Es war eine Zeit, in der fremdländisch wirkende Menschen noch besonders auffielen, selbst in einem südfranzösischen Urlaubsort wie Sanary sur mer, der mit seiner Nähe zum internationalen Hafen von Marseille durchaus internationale Besucher gewohnt war. Aline, die Hebamme, die mit dem Rad zum Haus der Familie Jospin fuhr, beeilte sich, noch vor dem Unwetter bei der niederkommenden Madame einzutreffen. Ein starker Wind wehte, sie hatte ihren Kopf zur Seite gedreht um keinen Sand in die Augen zu bekommen und erschrak fast zu Tode, als der große aufrechte Mann wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand.
„Entschuldigung Madame“ sagte er mit starkem Akzent. „Ich suche das Haus der Familie Jospin.“
Graue lange Haare wehten unter seinem schwarzen Hut und seine faltige Haut schimmerte so rötlich wie die Haut vieler Badegäste nach den ersten Tagen am Strand. Er war alt, mindestens 70 Jahre, und blickte sie dennoch mit klaren, fast jugendlichen schwarzen Augen an. „Dort drüben, Monsieur“, antwortete die Hebamme und deutete auf das große weiße Haus vor ihnen „Werden Sie erwartet?“
Der Mann lächelte.„Ich denke nicht. Nicht von allen jedenfalls.“
„Kommen Sie mit, ich will auch gerade dorthin“
Aline schob ihr Fahrrad den Rest des Weges und der alte Mann ging stumm neben ihr her. Eine junge Frau öffnete die Tür.
„Oh, Aline, Zeit, dass du kommst, die Wehen sind schon recht häufig.“ Mit großen Augen sah sie den Mann an, der neben Aline stand. „Was kann ich für Sie tun Monsieur?“ fragte sie. Er zog einen kleinen ledernen Umschlag aus seiner Jackentasche.
„Mein Name ist Motavato und ich komme von weit her. Ich habe eine Botschaft für das kleine Mädchen, das heute zur Welt kommen wird.“
„Aha, Sie wissen bereits, dass es ein Mädchen wird. Können Sie hellsehen?“
Motavato überging die Frage. Er wartete eine geraume Zeit, bis Arthur Jospin erschien. Offenbar hatte man sich beraten, wie man dem seltsamen Fremden begegnen sollte.
„Ich habe wenig Zeit, Sie verstehen das sicher“, sagte er. „Sagen Sie mir rasch, was wollen Sie?“
Motavato hielt noch immer das kleine Lederkuvert in der Hand. „Monsieur, ich mache es schnell. Ich habe hier eine Ahnenmedizin, die Ihre Tochter schützen soll, vor allem was sie bedroht. Legen Sie es ihr auf ihr kleines Herz, wenn sie auf der Welt ist.“
Arthur sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen an .„Entschuldigung Monsieur, aber lassen Sie uns bitte damit in Ruhe. Ich kenne Sie nicht und habe auch überhaupt nichts mit Ihnen und Ihren Sitten zu tun. Was soll das alles?“
Motavato schüttelte den Kopf. „Vertrauen Sie mir, es ist zum Schutz Ihrer Tochter. Es ist alles was wir im Moment tun können und sie wird es gebrauchen können.“
Er gab Arthur den Umschlag, der ihn wie einen Fremdkörper in der Hand hielt. Mit leicht geöffnetem Mund schaute er dem alten Indianer hinterher, der, nachdem er sich umgedreht hatte, langsam in Richtung Strand ging, während heftige Blitze, untermalt von grollendem Donner, vom Himmel zuckten und ihn in ein seltsames weißes Licht tauchten.
Motavato setzte sich schwerfällig in eine Sanddüne, die ihm ein wenig Schutz vor dem Sturm bot und sah hinaus auf die tosenden Wellen, die in den flammenden Blitzen wie weiße Wesen aussahen, die wild an Land sprangen um direkt danach sofort wieder im Sand zu versinken.
„Deine Rückkehr ist gekommen großer Menawa“ rief er hinaus in die Nacht. Ein glückliches Lächeln huschte über sein Gesicht. Er nahm seinen Hut ab und zog sich die Decke, die er um seine Schultern gezogen hatte über den Kopf. Der Sturm wurde heftiger und die kleinen Laternen, die überall an den Häusern hinter den Dünen hingen, schwenkten quietschend hin und her. Irgendwo schloss jemand lautstark die Fensterläden. War es das Haus der kleinen Raymonde? Es wäre gut, dachte Motavato, denn erste Spuren Sequoyahs waren ihm bereits begegnet. Für heute war sie sicher. Langsam erhob er sich und ging, den Kopf stolz nach hinten gelegt, auf das Meer zu. Er hob beide Hände zum Himmel und lachte laut auf, als Regentropfen wie kleine Kieselsteine in sein Gesicht schlugen.
„Öffne dich heiliger Weg“ rief er und wer in diesem Moment neben ihm gestanden hätte, wäre Zeuge geworden, wie sein Gesicht sich verjüngte, während seine weißen Haare schwärzer wurden und sein Körper die muskulöse Straffheit eines jungen Mannes annahm. Er streifte die Decke ab und für einen kurzen Moment setzte der Regen aus. Der Wind verstummte und das Meer lag wie ein ruhiger See vor ihm. Motavato ging hinein, langsam und bedächtig, bis das Wasser ihn in sich aufnahm und über seinem Kopf sanft zusammenschlug, um dann sofort wieder heftig aufzubranden und im dumpfen Groll des Donners erneut mit schäumenden Kronen am Strand aufzuschlagen.
Sequoyah, der alles von der Kuppe der Düne beobachtet hatte, drehte sich um und ging langsam den gleichen Weg, den Motavato gekommen war, zurück. Hinauf zu dem weißen Haus, das jetzt alle Fensterläden geschlossen hatte und der kleinen neugeborenen Raymonde zumindest für diese Nacht ein sicheres Bett bieten sollte…